Rettungsdecken und Wasserflaschen für Menschen auf der Flucht

Gepostet am Aktualisiert am

Es sind Bilder und Geschichten, die einem im Gedächtnis bleiben. Schreckliche Bilder. Herzzerreissende Geschichten. Traurige Szenen. Doch auch eine grosse Menschlichkeit. Es sind Bilder, die schwierig zu erzählen sind. Nicht, weil sie zu wenig Inhalt liefern, nein. Sie sind schwierig zu erzählen, weil man das Empfinden und diese Gefühle, kaum in Worte fassen kann. Vor einiger Zeit habe ich mich entschieden, aufzustehen, hinauszugehen und für meine Meinung hinzustehen (vorheriger Post). Hier nun also meine Erfahrungen aus Lesvos – oder zmindest ein Teil davon.

Früh, wird es dunkel auf der griechischen Insel Lesvos, nahe dem türkischen Festland. Einzig die Lichter der Städte und Dörfer auf beiden Seiten erhellten die Nacht und liessen das Meer dazwischen nur noch dunkler und unbändiger wirken. So war es noch bis vor ein paar Tagen. Nun stehen auf türkischer Seite grosse Flutlichter und zwischen den beiden Landesteilen patrouillieren regelmässig Schiffe der beiden Küstenwachen. Nur schon das lässt ein ungutes Gefühl aufkommen. Ein beklemmendes Gefühl. Wieso diese Vorkehrungen? Wozu? Warum?

Bei Tageslicht findet man die Antwort ohne sie suchen zu müssen. Mehrere hunderttausend Schwimmwesten und zehntausende Boote liegen vor allem am nördlichen Strand der Insel. Die zerfetzten Gummiboote wickeln sich um die Felsen der Küste und die Schwimmwesten bilden einen Teppich, der ganze Strände unter sich begräbt. Durchnässte Kleider liegen im Schlamm. Schuhe treiben in den Wellen hin und zurück und allzu oft findet man Schnuller, Stofftiere oder Babywindeln. Berge von Beweisen für „illegale Überfahrten“ von der Türkei nach Europa. Überfahrten, die man stoppen will. Jeder will sie stoppen. Regierungen und freiwillige Helfer. Menschenrechtsaktivisten und Politiker. Die Überfahrten sind Lebensgefährlich. Sie sind unglaublich teuer. Sie sind illegal. Doch sie sind zurzeit der einzige Weg zur Flucht. Zur Flucht nach Europa. Zur Flucht aus einer zerstörten Heimat, aus einer zerstörten Zukunft, aus der ständigen Angst. Einige sehen die Überfahrten als Bedrohung, andere als unnötig. Die illegale Immigration müsse man stoppen. Terroristen kommen. Fremde Kulturen, die wir nicht wollen. So tönt es von der einen Seite. Auf der anderen sagt man, dass sichere Wege geschaffen werden müssen. Dass jede Grenzschliessung, jede Ausweitung der Kontrollen, jede Bemühung die Fluchtmassen zu stoppen einzig und alleine in die Hände der Schlepper spielt. Schlepper, die dann nur noch mehr Geld verlangen können. Schlepper, die noch gefährlichere Wege suchen. Sie selbst müssen sie ja nicht gehen. Leidtragende sind die Menschen auf der Flucht. Und genau das scheint sich zu bewahrheiten. Drei Milliarden wurden an die Türkei gezahlt. Die Kontrollen wurden verschärft und Flutlichter aufgestellt. Die Nordküste von Lesvos zwischen Molyvos und Skala Sikaminea ist seither nicht mehr ganz so stark frequentiert wie vorher. Die Zwischencamps an der Küste bleiben leer, die freiwilligen Helfer können etwas ruhen oder sich um die Reinigung der Küsten kümmern. Viel wurde über die letzten Monate an der Küste aufgebaut, organisiert und in Betrieb genommen. Es hat Rettungsschwimmer aus verschiedenen Ländern, Boote von Greenpeace und Médecins sans Frontières, Jetskis, Wärmebildkameras für die Nacht, Lagerhäuser für trockene Kleider, Schuhe und Medikamente, Zwischencamps mit warmen Zelten und warmen Mahlzeiten, Busse für den Transport, freiwillige Helfer, Spendengelder. Viele Ressourcen, die plötzlich nicht mehr so stark gebraucht werden. Jedenfalls nicht am selben Ort. Der Fluchtstrom ist nicht gebrochen. Er wurde nur verschoben. Die Boote erreichen die Insel an anderen Stellen (oder sie erreichen andere inseln). Dort, wo auf der türkischen Seite noch keine Flutlichter stehen. Dort, wo noch nicht so viele Kampfschiffe der Küstenwache patrouillieren. Dort, wo noch keine grosse Infrastruktur der Helfer aufgebaut ist. Der Preis für die Überfahrt ist teurer geworden. Sie dauert länger. Die Ankunft ist weniger gut organisiert. Freiwillige Helfer und kleine NGO‘s versuchen alles Mögliche, um diese Situation zu bewältigen. Ein Camp mitsamt Küche steht in der Nähe des Hafens. Ohne Bewilligung. Doch gebraucht wird es. Das sieht man täglich, wenn man durch die Hafengegend schlendert und die vielen Grüppchen sieht, die in Decken gehüllt am Boden kauern oder auf Bänkchen schlafen. Einige wissen nicht, dass es das Camp gibt, andere wollen auf keinen Fall die Fähre verpassen und dritte haben Angst, von der Polizei aus dem Zelt getrieben zu werden. Trotzdem sind die Zelte voll. Die Mahlzeiten werden meistens Restlos aufgegessen und in der Nacht schlafen die freiwilligen Helfer am Strand. Nur damit sie die ankommenden Boote hören und den Menschen nach der Überfahrt ein Minimum an Hilfe leisten können. An anderen Stellen der Küste werden Wachposten organisiert. 24 Stunden täglich und 7 Tage in der Woche halten sie nach ankommenden Booten Ausschau. Jeder Kleinwagen ist mit Wasserflaschen und Rettungsdecken ausgestattet. So werden die Menschen nach der gefährlichen Überfahrt begrüsst. Mit Rettungsdecken und Wasserflaschen. Das ist es, was Europa derzeit zu bieten hat, für Menschen auf der Flucht. Wasserflaschen und Rettungsdecken. Manche haben Medikamente, andere trockene Kleider, wenige kochen warmen Tee. Später gibt es Zelte für die kalte Nacht und wenn man Glück hat ein paar trockene Schuhe. Doch selbst diese Kleinigkeiten existieren grösstenteils nur dank privaten Spenden, dank den vielen engagierten Menschen. Und nur dank den vielen Freiwilligen hat das Ganze auch etwas Herzliches. „Wellcome to Europe“ und eine Umarmung kommen dazu. Und fröhliche Gesichter. Fröhlich, weil es das Boot sicher ans Ufer geschafft hat. Fröhlich, weil kein Mensch sein Leben verloren hat. Nicht bei diesem Mal. Nicht bei dieser Überfahrt. Selbstverständlich ist das nicht.

Hinterlasse einen Kommentar