Ich trau mich nicht und deshalb trau ich mich

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Ich und du, wir stehen hier. In der einen Hand ein Bier, in der anderen ein Stück Papier. Ein Bericht zu Gräueltaten, mit Menschen die durch Flüsse waten, die hohe Zäune erklimmen und durch tiefe Wasser schwimmen. Menschen, die getötet werden oder auf andere Weise sterben. Menschen die trauern, die weinen, die schreien und verzweifeln. Menschen, sich nach Sicherheit sehnen, nach Freiheit und Gerechtigkeit streben. Menschen die gezwungen werden gefährliche Wege zu gehen, ohne die Möglichkeit zurückzukehren. Menschen wie du und ich. Menschen mit Bildung, Menschen ohne Bildung. Menschen mit Familie, Menschen ohne Familie. Menschen mit andern Sprachen, anderen Kulturen, anderen Religionen und anderen Bräuchen. Doch eines sind sie alle…Menschen!

Ist es dann wirklich nötig, dass wir solche Bilder sehen? Bilder von kleinen Buben, angetrieben von den Fluten, die am Strande liegen und sich nicht mehr rühren. Bilder von Elend, von Tod, von Leid und von Mord. Bilder, die nicht mehr so schnell vergehen, die in den schlimmsten Träumen wiederkehren. Bilder, die wir nicht verstehen, nicht begreifen und nicht wollen, die uns in eine schreckliche Realität zurückholen. Bilder, die uns berühren, die uns kränken, die uns verzweifeln lassen und uns zeigen, dass um uns herum viel Schlimmes geschieht. Viel Schlimmes, das wir nicht wollen…oder doch?

Es wird ein Zaun gebaut, um uns herum. Wer baut ihn? Wir bauen ihn! Es werden Menschenrechte verletzt um uns herum. Wer verletzt sie? Wir verletzen sie! Es wird Hilfe verweigert um uns herum. Wer verweigert sie? Wir verweigern sie! In Europa gibt es keine Monarchien, keine Diktaturen, keine Willkürregime. Es gibt keinen Zwang durch den Staat, keinen Herrscher, der sich an uns labt, der uns befiehlt und uns bestiehlt, durch unser Leid Gewinne erzielt. Unsere Meinung wird nicht unterdrückt, unser Verhalten nicht in eine Standartnorm gerückt und unsere Hoffnung wird nicht zerdrückt. Wir werden nicht bestimmt, wir bestimmen! So sind es auch wir, die die Verantwortung tragen, an all dem was unsere Regierungen und Gesetze sagen. An all dem, was im Namen unseres Landes geschieht, an all dem was man so in den Zeitungen liest. Es ist an uns und es ist an der Zeit aufzustehen, für unsere Meinung hinzustehen, hinauszugehen und etwas zu unternehmen. Weil wir die Möglichkeit haben, weil wir Verantwortung tragen und weil wir ein Herz in uns haben.

Denn ich will nicht erleben, dass sie unseren Kindern in der Schule erzählen, wir hätten nichts getan und weggesehen, hätten gewartet statt aufzustehen. Wir hätten es erlaubt, dass Menschen sterben, statt ihnen eine helfende Hand zu geben. Hätten sie ausgesperrt und uns hinter den hohen Mauern versteckt. Hätten aufgehört, die Schreie zu hören, die Bilder zu sehen, die Geschichten zu lesen, sie weiter zu erzählen…nur damit wir selbst so weiterleben können, wie bisher. In einer Welt, in der wir uns kaum Sorgen machen müssen, in der wir fast alles erreichen können, was wir wollen. In einer Welt in der wir profitieren, von den Taten unserer Vorfahren, seien sie gut oder schlecht gewesen. In der wir profitieren, von skrupellosen Wirtschaftspartnern, von gewissenlosen Ölbaronen, von korrupten Regierungen, von grenzenloser Armut, von Kinderarbeit. Ja, wer traut sich denn, wirklich den Ursprung zu hinterfragen, woher wir unseren Wohlstand haben, an wem wir uns so gütlich laben, worin all unsre Gewinne lagern. In der Sklaverei? In den Kolonien? In den aufgeheizten Kriegen? Im zerstörten Frieden? Im Egoismus. In einem Egoismus, den es nun gilt zu unterdrücken, in den Hintergrund zu rücken und uns stattdessen so auszudrücken: „wir sind Hilfsbereit, denn nur so besiegen wir das grosse Leid“.

Sonst trau ich mich nicht, meine Kinder in die Schule zu schicken, aus Angst vor den Geschichten, die sie mir dann berichten und wonach sie fragen werden: „Wie konntest du das nur erlauben und trotzdem an eine schöne Zukunft glauben? Daran glauben, dass wir es ertragen, diese Vergangenheit auf unseren Schultern zu tragen?“ Ich trau mich nicht und deshalb trau ich mich… Aufzustehen, hinauszugehen, für andere hinzustehen und alles in meiner Macht stehende zu unternehmen. Ich trau mich nicht und deshalb trau ich mich…

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