Die Letzten – die Vergessenen?

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Auch wenige Tage vor meiner Abreise wusste ich nicht wirklich, was mich in Sindos, nahe Thessaloniki in Griechenland, erwarten würde. Die beiden Camps für geflüchtete Menschen, in welchen Swisscross (www.swisscross.help) aktiv ist kenne ich zwar von meinem Einsatz im Sommer, doch in der Zwischenzeit hatte sich vieles verändert. Kurz vor meiner Ankunft wurden die Letzten Menschen aus dem Fabrikgebäude (ehemalige Ledergerberei) in Karamanlis rausgeholt. Bis zum Schluss lebten sie in Zelten auf dem kalten, kargen Betonboden in vier schlecht isolierten, tristen Hallen. Bis zum Schluss mussten sie fürs Essen anstehen, konnten ihre Kinder nicht in die öffentliche Schule schicken und wussten nicht, wie ihre Zukunft aussehen würde. Doch mehr und mehr wurden die Menschen in Wohnungen und Hotels untergebracht. Einige durften weiterreisen und in einem andere EU-Staat Asyl beantragen, andere gingen den riskanten Weg, mit Schmugglern. Weil sie nicht mehr warten konnten und weil sie ihr Schicksal nicht dem Zufall überlassen wollten. Wieso dem Zufall? Und wieso wollen sie nicht mehr warten? Den geflüchteten Menschen in Griechenland bieten sich offiziell zwei Möglichkeiten. Einerseits die Falmily-Reunification, wenn sie bereits Familienmitglieder (Ehepartner, Kinder oder Eltern von minderjährigen Kindern) in einem anderen EU-Land haben und andererseits das Relocation-Programm für alle anderen. Die Family-Reunification zieht sich oft sehr stark in die Länge. Bürokratische Hürden erschweren es den Menschen und so dauert es mehrere Monate (für einige bereits ein Jahr), bis sie ihre liebsten wiedersehen können. Das Relocation-Programm funktioniert anders. Die Menschen müssen sieben Länder auswählen, die sie bevorzugen würden. Sie haben zwei Interviews in denen sie ihre Lebensgeschichte offenlegen müssen und erhalten dann einen Entscheid, wo sie hingehen dürfen. Sieben Länder! Ich habe mir mal überlegt, welche ich auswählen würde… Schweiz, Spanien, Deutschland, Frankreich, Schweden, Niederlande und England wären wahrscheinlich meine Favoriten. Ich spreche Deutsch, Französisch, Englisch und Spanisch. Das reicht leider nicht, für diese Länder. Ich habe Kontakte, Familie oder Freunde in der Schweiz, Frankreich, Spanien, Deutschland und über ein paar Ecken auch in England und den Niederlanden. Doch auch das ist nicht genug. Selbst für mich wäre es schwierig, sieben europäische Länder zu bestimmen, in denen ich gerne Leben möchte. Für die Menschen, denen dieser Entscheid die Zukunft bestimmt, ist es noch schwieriger. Und selbst diese Auswahl der sie sieben Länder stellt keine Garantie dar. Es kann sein, dass ein anderes, willkürlich ausgewähltes Land bestimmt wird, in das die Menschen ziehen sollen.

Doch schlimmer als der Entscheid erscheint das ewige warten. Viele warten noch immer. Auf den Flug, auf den Entscheid oder auf das erste Interview. Seit knapp einem Jahr sind die Grenzübergänge der Balkanroute verbarrikadiert. Seit über einem Jahr leben die Menschen im ungewissen. In Zelten, in günstigen Wohnungen oder Hotels.

Einige warten auch noch in Frakapor, dem zweiten Camp, in dem Swisscross aktiv ist. Gut 40 Menschen. Allesamt syrische Kurden. Alte Männer, junge Familien und kleine Kinder. 288 Tage ist es her, seit sie nach Frakapor gebracht wurden. Es geht ihnen gut, körperlich. Doch psychisch sieht es bei so vielen anders aus. Sie sind die letzten, in dem Camp und fühlen sich vergessen. Immer wieder mussten sie sich in letzter Zeit verabschieden. Von Volunteers, aber vor Allem auch von Freunden, die in Wohnungen oder Hotels ziehen durften oder weiterreisen konnten. Freunde, die sie oft seit einem Jahr und länger kennen. Mit denen sie in Schlauchbooten übers Meer gefahren sind, in Idomeni den übelsten Umständen getrotzt haben und mit denen sie nun seit acht Monaten in Frakapor zusammenlebten. Die Verbliebenen schlafen immer länger, um den Tag nicht ertragen zu müssen. Sie versuchen sich mit irgendwelchen Dingen zu beschäftigen, verbringen aber die meiste Zeit doch nur mit Schlafen, Essen und Reden. Wo ich noch im Sommer dachte, dass Frakapor mit seinen 600 Personen masslos überfüllt ist, finde ich es jetzt noch schlimmer. Die wenigen Menschen in den grossen Hallen, die vielen leeren Zelte und vor Allem diese ungeheuerliche Stille lassen den Ort noch unbewohnbarer wirken, als er vorher schon war. Doch auch wenn es sich anfühlt, dass sie vergessen wurden. Vergessen von der Politik, den Regierungen, dem UNHCR und den Asylbehörden. Ganz vergessen sind sie nicht. In Sindos gibt es noch ein Community Center mit verschiedenen Sprachkursen und Schulunterricht für Kinder. In Frakapor selbst eine Englisch-Konversationsstunde, ein Shop mit frischen Lebensmitteln und Hygieneartikel und verschiedene Aktivitäten, die den Menschen wenigstens etwas Abwechslung bieten sollen. Heute, am Tag meiner Abreise haben die Volunteers von Swisscross und Act of Mercy einen Ausflug ans Meer organisiert. Tapetenwechsel und etwas Abstand zum öden Alltag. Ich selbst reise derweil weiter nach Lesvos. Nicht ohne ein komisches Gefühl im Bauch. Ich lasse die Menschen nicht gerne zurück. Sie wurden schon von so vielen zurückgelassen. Doch ich weiss, dass ich darauf vertrauen kann, dass sie nicht ganz vergessen sind. Bis zum letzten Bewohner bleibt ein kleines Team aus Volunteers vor Ort. Sie tun, was sie können, um Kleinigkeiten zu verbessern. Sie geben den Menschen das Gefühl, nicht ganz vergessen zu sein.

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